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Europäischer Gerichtshof hat über Vorlagefrage des Verwaltungsgerichts Hannover entschieden

Wichtiges Urteil des EuGH zum Schutzstatus von Syrern, die den Wehrdienst verweigert haben


In dem Verfahren 4 A 3526/17 hat das Verwaltungsgericht Hannover über die Asylklage eines 1989 geborenen syrischen Staatsangehörigen zu entscheiden. Der Kläger trug vor, aus seiner Heimat geflohen zu sein, um sich dem Militärdienst zu entziehen. Bei einer Rückkehr nach Syrien befürchte er Strafverfolgung oder Bestrafung deswegen. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (in Folgendem BAMF) gewährte ihm zwar den subsidiären Schutz, lehnte aber die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ab. Nach Ansicht des BAMF habe der Kläger selbst keine Verfolgung erlitten, die ihn zur Ausreise bewegt habe. Er sei lediglich vor dem Bürgerkrieg geflohen und habe deswegen bei einer Rückkehr nach Syrien keine Verfolgung zu befürchten. Das BAMF stellte sich zudem auf den Standpunkt, dass es an einer Verknüpfung zwischen der vom Kläger befürchteten Verfolgung und einem der im Gesetz genannten Verfolgungsgründe (Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, politische Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe), die einen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft begründen könnten, fehle. Gegen den Bescheid des BAMF erhob der Kläger beim Verwaltungsgericht Hannover Klage.

Mit Vorlagebeschluss vom 07. März 2019 hat das Verwaltungsgericht Hannover den EuGH um Auslegung der Richtlinie über den internationalen Schutz (RL 2011/95/EU) ersucht. Nach der Richtlinie kann als asylrelevante Verfolgung unter anderem die Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt gelten, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen wie zum Beispiel Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit umfassen würde, die die Anerkennung als Flüchtling ausschließen. Nach Auffassung des Verwaltungsgerichts sei zu befürchten, dass dem Kläger, der sich kurz vor Ablauf seiner Zurückstellung vom Militärdienst den syrischen Behörden entzogen habe, indem er Syrien verlassen und um Schutz in der Bundesrepublik Deutschland nachgesucht habe, aufgrund dieses Verhaltens eine Strafverfolgung oder Bestrafung in seinem Herkunftsland Syrien drohe, wo eine allgemeine Militärpflicht bestehe, die der Kläger nicht erfüllen wolle und die wahrscheinlich mit der Begehung von Kriegsverbrechen einhergehen würde.

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat mit Urteil vom 19. November 2020 (Az. 238/19) über den Vorlagebeschluss des Verwaltungsgerichts Hannover vom 07. März 2019 entschieden:

„Im Kontext des Bürgerkriegs in Syrien spricht eine starke Vermutung dafür, dass die Weigerung, dort Militärdienst zu leisten, mit einem Grund in Zusammenhang steht, der einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft begründen kann.“

Die Luxemburger Richter führen in ihrer Entscheidung aus, dass der in Syrien herrschende Bürgerkrieg sich durch die wiederholte und systematische Begehung von Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit durch die Armee unter Einsatz von Wehrpflichtigen gekennzeichnet sei. Wehrpflichtige seien vom Staat veranlasst worden, unmittelbar oder mittelbar an der Begehung solcher Verbrechen teilzunehmen. Da eine Verweigerung des Wehrdienstes gesetzlich nicht vorgesehen sei, drohe denjenigen Strafverfolgung, die versuchten sich dem Wehrdienst zu entziehen. Nach Ansicht des EUGH sei es zwar richtig, dass es nach den asylrechtlichen Regelungen einer Verknüpfung zwischen der Bestrafung und einem der fünf Verfolgungsgründe bedarf. Eine starke Vermutung spreche aber für das Vorliegen dieser Verknüpfung. Die Verweigerung der Wehrpflicht sei in vielen Fällen Ausdruck politischer oder religiöser Überzeugungen oder habe ihren Grund in der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe.

Die Pressemitteilung des EUGH vom 19. November 2020 ist abrufbar unter: https://curia.europa.eu/jcms/upload/docs/application/pdf/2020-11/cp200142de.pdf

Das Urteil des EuGH dürfte schon deswegen von großer praktischer Relevanz sein, weil es zu dieser Frage bisher divergierende Rechtsprechung der Oberverwaltungsgerichte gab und der geltend gemachte Asylgrund der Wehrdienstverweigerung eine Vielzahl von Asylverfahren von Staatsangehörigen aus Syrien betrifft.

Artikel-Informationen

erstellt am:
20.11.2020

Ansprechpartner/in:
Dr. Mirko Widdascheck als Pressesprecher

Verwaltungsgericht Hannover
Pressesprecher
Leonhardtstraße 15
30175 Hannover
Tel: 0511 89750-382

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